S. Burghartz u.a. (Hgg.): Berichten - Erzählen - Beherrschen

Cover
Titel
Berichten - Erzählen - Beherrschen. Wahrnehmung und Repräsentation in der frühen Kolonialgeschichte Europas


Herausgeber
Burghartz, Susanna; Christadler, Maike; Nolde, Dorothea
Reihe
Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit 7 / 2,3
Erschienen
Frankfurt am Main 2003: Vittorio Klostermann
Anzahl Seiten
479 S.
Preis
€ 30,00
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von
Christian Büschges, Arbeitsbereich Iberische und Lateinamerikanische Geschichte, Universität Bielefeld

Der vorliegende Band ist das Ergebnis einer von den Herausgeberinnen und Leiterinnen des Forschungsprojektes „Translating Seen into Scene. Identitätskonstruktion und Selbstrepräsentation in Eroberergeschichten über die ‚Neue Welt’“ organisierten internationalen Tagung, die im April 2002 an der Universität Basel stattfand. An der Tagung nahmen 25 Wissenschaftler aus den Bereichen der Geschichte, Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Ethnologie teil. Ziel der Tagung und der hier veröffentlichten Beiträge war es, die der Wahrnehmung, Praxis und Repräsentation interkultureller Kontakte in der Frühen Neuzeit zugrunde liegenden Formen, Muster und Zwänge herauszuarbeiten.

Die Wahrnehmung und Repräsentation des aus europäischer Sicht Fremden gehören seit längerer Zeit zu den Dauerbrennern der Historiografie zur europäischen Expansion (nicht nur) der Frühen Neuzeit. Während die wissenschaftliche Untersuchung der „Begegnung der Kulturen“ ursprünglich aus einer eurozentrischen ethnografischen Perspektive und Tradition betrachtet und vielfach in eine weitgehend uniforme Großerzählung von europäischer Eroberung und Fremdherrschaft eingeschrieben wurde, in der sich homogen und statisch gedachte Gruppen von Eroberern und Eroberten gegenüber standen, hat sich der historische Blick auf die europäische Eroberung und Kolonialherrschaft und die Darstellung der indigenen Völker in den europäischen Reiseberichten der Frühneuzeit während der 1990er-Jahren stark gewandelt.

Der Titel des von den Herausgeberinnen geleiteten Forschungsprojektes „Translating Seen into Scene“ geht auf die US-amerikanische Ethnologin Judith Modell zurück und verweist auf den grundsätzlichen Inszenierungscharakter ethnografischer Darstellungen. Susanna Burghartz verweist in ihrer Einleitung des Tagungsbandes auf die in der Ethnologie in den 1980er-Jahren geführte Debatte über die „Krise ethnographischer Repräsentation“, die sich an Roy A. Wagners Buch „The Invention of Culture“ von 1981 entzündete, in der dieser die möglichen Verzerrungen der Ergebnisse der ethnologischen Feldforschung durch die Deutungsmuster des Wissenschaftlers zur Diskussion gestellt hatte. Eine Folge dieser Debatte für die ethnohistorische Forschung war zunächst, dass die Reiseberichte und die ethnografische Literatur der Frühneuzeit in weiten Teilen als unauthentisch entlarvt wurden und als eurozentrische Diskurse ohne historisch-empirischen Wert für eine Analyse interkultureller Beziehungen in Verruf gerieten. Die Interpretationsarbeit an diesen Texten reduzierte sich in diesem Kontext weitgehend auf dekonstruktivistische Verfahren. Burghartz kritisiert hieran jedoch zu Recht, das eine rein dekonstruktivistische Perspektive Gefahr läuft, den Quellenwert der untersuchten Texte weiterhin ausschließlich auf die darin enthaltenen europäischen Traditionen und Perspektiven zu reduzieren. Die Anthropophagie, die in der Forschung zwischenzeitlich fälschlicherweise auf eine reine Erfindung der frühneuzeitlichen Autoren zur Bedienung eines sensationslüsternen europäischen Publikums reduziert worden war, ist hier vielleicht das offenkundigste Beispiel.

In jüngerer Zeit ist die dekonstruktivistische Quellenkritik daher einer neuen Lektüre der europäischen Repräsentation der außereuropäischen Welt gewichen, die den komplexen, mehrdeutigen und widersprüchlichen Elementen in den Texten und Bildern zu den außereuropäischen Kulturen nachgeht und sie als Teil einer Geschichte interkultureller Beziehungen betrachtet, die sich aus einer schematischen Gegenüberstellung von Eroberern und Eroberten, Tätern und Opfern in der Tradition der einseitigen Großerzählung des europäischen Kolonialismus herauslöst.

Der Band ist in vier Sektionen unterteilt, deren thematischer Zusammenhang unterschiedlich eng ist. Der erste Teil versammelt neben einem Aufsatz von Hartwig Isernhagen zu den angesprochenen theoretisch-methodisch Neuorientierungen im Blick auf die Komplexität interkultureller Beziehungen infolge der europäischen Expansion Beiträge von Natalie Zemon Davis, Kaspar von Greyerz und Jonathan Elmer, die sich der Frage der Identität und Authentizität in außereuropäischen autobiografischen Texten verschiedener Länder vom 16. bis zum 19. Jahrhundert widmen. Daran anschließend behandeln Johan Verberckmoes und Viktoria Schmidt-Linsenhoff die Frage nach dem Realismus und der Eindeutigkeit in Repräsentationen des Indigenen in europäischen Inszenierungen des 16. und 17. Jahrhunderts. Die den dritten Teil des Bandes bildenden Aufsätze von Margaret Bridges, Hildegard Frübis und Christian Kiening fokussieren verschiedene europäische Denk- und Bildtraditionen, die in die Beschreibung der außereuropäischen Welt Eingang fanden und diese prägten. In den Beiträgen des abschließenden vierten Teils von Henry Keazor, Anna Greve und Michael Harbsmeier werden die Folgen des interkulturellen Kontaktes wieder stärker auf ihre Rückwirkungen auf Europa hin betrachtet. Der Sammelband bietet hiermit einen gelungenen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschungen zu den interkulturellen Beziehungen der Frühneuzeit, wobei der Schwerpunkt auf einer kritischen Analyse der europäischen Rezeption der außereuropäischen Welt liegt.

Hartwig Isernhagen thematisiert in Anlehnung an Richard White’s Konzept des „middle ground“ aktuelle Perspektiven der historischen Erforschung europäisch-indigener Kulturkontakte. Der „middle ground“ ist als Begegnungsraum gedacht, der (noch) nicht durch die Dominanz einer (v.a. Eroberungs-)Kultur geprägt ist und damit Raum lässt für die kulturelle Interaktion und die Entstehung hybrider Kulturformen. Für die historische Forschung zielt dieser Ansatz auf eine Überwindung der binären Codierung der Quellen und Literatur in Eroberer und Eroberte, Täter und Opfer zugunsten einer vielseitigen Perspektive auf variierende Interaktionsformen verschiedener Individuen, Gruppen und Kulturen, wie sie vor allem für die Frühphase des Kulturkontakts typisch sei. Isernhagen verdeutlicht dies unter anderem am Beispiel der nordamerikanischen indigenen Völker, für die die europäische Eroberung eben nicht nur die Alternative zwischen „Genozid“ und Proletarisierung ergab, sondern ebenso eine kreative Rekonstrukturierung ethnischer Identitäten zur Folge hatte. Dieser Prozess hat im Übrigen seit den 1990er-Jahren in Nord- und Südamerika eine neue Aktualität erfahren, die sich in einer auf die Überwindung der historischen Unterdrückung indigener Völker zielenden (Re-)Ethnisierung weiter Bevölkerungsgruppen ausdrückt. Die Vielfalt der kulturellen Interaktion infolge der europäischen Expansion nach Übersee wird im Falle des spanischen Amerika besonders deutlich, wo das Aufeinandertreffen von Spaniern und Indigenen schon bald zur Entstehung einer multi-ethnischen Gesellschaft führte, wobei dieser sozio-kulturelle Wandel von der kolonialen Verwaltung eher rechtlich normierend begleitet als kontrolliert wurde.

Natalie Zemon Davis und Jonathan Elmer untersuchen verschiedene autobiografische Texte nicht-europäischer Autoren, die in verschiedener Regionen und Epochen in Europa bzw. unter europäischer Kolonialherrschaft lebten, von einem Konvertiten muslimischer Herkunft im Rom des frühen 16. Jahrhunderts bis zur Sklavin afrikanischer Abstammung im britischen Westindien des frühen 19. Jahrhunderts. Beide Autoren arbeiten hierbei die in den Texten erkennbaren Ambivalenzen und Widersprüche heraus, die aus der Vermittlung von nicht-europäischen Traditionen mit den Erwartungen eines europäischen Publikums resultieren, woraus sich Fragen nach der Authentizität der Texte bzw. nach den Spuren einer kulturell dynamischen Identitätsbildung der Autoren ergeben.

John Verberckmoes und Viktoria Schmidt-Linsenhoff Untersuchungen zur Darstellung indigener Personen und Gruppen Brasiliens in schriftlichen und bildlichen Quellen des 16. und 17. Jahrhunderts arbeiten heraus, wie der ethnografische Anspruch dieser Repräsentationen bei genauerer Interpretation durch verschiedene, sich historisch verändernde europäische Vorstellungen geprägt ist. Hildegard Frübis analysiert die konfessionellen Differenzierungen von Bildquellen zur Eroberung Amerikas und die darin jeweils verwobenen antiken und biblischen Motive, deren Auswahl Aufschluss gibt über divergierende Deutungen der europäischen Expansion nach Amerika für die Christenheit.

Henry Keazors Interpretation eines Selbstporträts Theodor De Brys aus dem Jahr 1579 führt ihn, ausgehend von kunst- und literaturhistorischen Untersuchungen zu frühmodernen Identitätsentwürfen zu der interessanten, wenngleich noch weiter zu untermauernden Hypothese, die eigentümliche Bildikonografie, die verschiedene Bildtraditionen verknüpft (den Zirkel des Gelehrten und Entdeckers mit dem Totenschädel aus der Vanitas-Thematik anstelle des üblichen Globus), sei das Ergebnis einer neuen Verbindung von Außen- und Innenwelt, von Entdeckungs- und Melancholiediskurs.

Anna Greves Analyse der Teile 4-6 der von De Bry und seinen Nachfahren zwischen 1590 und 1634 erstellten Kupferstiche der Serienedition der „Grand Voyages“ konzentriert sich auf die Herausarbeitung von typischen Merkmalen des kolonialen Diskurses. Während die Kupferstiche der ersten drei Teile der „Grand Voyages“ die indigene Bevölkerung Amerikas noch in einer Art paradiesischem Urzustand in freier Landschaft zeigen, bilden die folgenden Kupferstiche die koloniale Situation und die damit verbundene ethnische Hierarchie ab, in der die indigene Bevölkerung in untergeordneter Stellung, etwa als Diener oder auch als Fremdkörper, erscheint. Deutlich wird diese Perspektive nicht zuletzt in der ausschließlichen Wahl von Innenräumen, deren Inventar der europäischen Bildtradition entnommen ist und die damit als genuin europäische Kulturräume erscheinen.

Michael Harbsmeiers abschließender Beitrag verlagert die Perspektive der Untersuchung interkultureller Kulturkontakte auf Berichte außereuropäischer Reisender im Europa des 17. Jahrhunderts, wobei er drei exemplarisch ausgewählte Texte auf gemeinsame Interessen und Deutungen bei der Darstellung von als typisch europäisch angesehen Aspekten untersucht, die sich vor allem in der Wahrnehmung der Malerei, verschiedenster Apparaturen und der sozialen Position der Frauen finden.

Redaktion
Veröffentlicht am
09.04.2004
Redaktionell betreut durch
Weitere Informationen
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit